Seit 1850 - In der Tiefenzeitmaschine
Die industrielle Revolution bringt einen fundamentalen Wandel aufs Feld: Nicht mehr die Sonne, sondern nicht erneuerbare Energieträger befeuern die landwirtschaftliche Entwicklung.
Keine andere Entwicklung hat den ökologischen Wandel so angetrieben, wie die industrielle Revolution. Die Umwandlung von einer solarbasierten vormodernen Landwirtschaft, dies es bis dahin seit rund 10.000 Jahren – seit der neolithischen Revolution – gab, auf eine industrielle begann bereits mit der Thermodynamik, beruht letztlich aber wesentlich auf Entnahme nicht erneuerbarer Rohstoffe: Kohle und Erdöl waren maßgeblich für die Entwicklung mineralischer Dünger, aber auch für Produktion und Antrieb von landwirtschaftlichen Maschinen. Während also eine Tiefenzeit der Erde abgebohrt und zu neuen Techniken und Produkten verarbeitet wurde, führte dies an der „Oberfläche“ dieses historischen Prozesses zu einer zeitlichen Verdichtung bis dahin ungekannten Ausmaßes. Diese Geschichtswahrnehmung wurde als „Fortschritt“ vielfach beschworen.
Frank Uekötter zufolge vollzog sich dieser beschleunigte Entwicklungsprozess in der Landwirtschaft seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in 30-Jahres-Sprüngen. So kam es um 1890 zur Gründung der Landwirtschaftskammern und ersten Bildungseinrichtungen, also zur Ausbildung einer „agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft“. In den 1920ern kam es dann zur Intensivierungskrise. Diese brachte große Rückschläge bei der Chemisierung und Technisierung der Landwirtschaft. In den 50ern dann folgte der beinah vollständige Umbau aller bisherigen Produktionsweisen unter brutalstem Einsatz von Maschinen und chemischen Ersatzstoffen. Dagegen wurden die Folgen dieses Blindflugs erst in den ökologischen Krisen der 80er Jahre sichtbar und mündeten in der Entstehung von Umweltbewegung und –politik, aber auch in der Entdeckung der VerbraucherInnen. Denn bis dahin waren Landwirtschaft und Ernährung einzig eine Frage des agrarischen Systems – und der/die KonsumentIn galt nicht als Teil dessen. Nun, 30 Jahre später, kann man die Frage stellen, wohin wohl der nächste Epochensprung führen wird?
Uekötter, Frank: Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft. (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010), S. 111-123
Sieferle, Rolf Peter; Krausmann, Fridolin; Schandl, Heinz; Winiwater, Verena: Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung (= Umwelthistorische Forschungen Bd. 2), (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2006)
Siehe auch das Forschungsprojekt „Die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft“ des Schweizer Archivs für Agrargeschichte
Titel: Seit 1850 - In der Tiefenzeitmaschine / Rechteinhaberin: BIO-WISSEN.org / Grafik: Andreas Pawlik (DFORM) / Redaktion: Alexander Martos (Science Communications Research), Reinhard Gessl, Elisabeth Klingbacher (FIBL Österreich) / Copyright: Seit 1850 - Tiefenzeiten von BIO-WISSEN.org ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.